Vom Regelwerk fürs Volk zur Achterbahn der Gefühle

Schauplatz Ethik

Digitale Lehrmittel

Bis Ende 2018 wurde «Schauplatz Ethik» erprobt. Zwei Schulbesuche zeigen auf, wie das Lehrmittel zur Auseinandersetzung mit ethischen Herausforderungen und philosophischen Fragestellungen anregt – stufengerecht und ohne moralischen Zeigefinger.

Heute haben Alexandra, Simrenjit, Catarina und Livia im Klassenzimmer das Sagen: Als Königinnen stellen sie gemeinsam mit ihren persönlichen Beraterinnen und Beratern Regeln für ihr Volk auf. Wie wollen sie künftig dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Reich wohl und sicher fühlen? 

Wo braucht es Regeln?

Die Übung fordert die Schülerinnen und Schüler der vollintegrierten 1. Sekundarklasse im Schulhaus Tribschen in Luzern heraus. In welchen Bereichen wie zum Beispiel dem Sozialen, dem Verkehr oder der Religion braucht es denn überhaupt Regeln? Wie gestaltet man diese gerecht aus und wie ahndet man Regelbrüche?

Die Diskussionen in den Gruppen laufen heiss und bei der Präsentation wird sichtbar, in welche ganz unterschiedlichen Richtungen die Schülerinnen und Schüler gedacht haben: So fordern sie zum Beispiel die Sicherstellung von genügend Plätzen für Obdachlose, die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für alle oder einen umfassenden Pflanzen- und Tierschutz. Oder sie wollen per Gesetz ein flächendeckendes WLAN verankern, in der katholischen Kirche Pfarrerinnen einsetzen oder Bestrafungen für Fehlverhalten einführen. Zum Abschluss stimmt die Klasse darüber ab, welche Gruppe die sinnvollsten Regeln aufgestellt hat.
 

Ein Fundus von spannenden Themen

Das Königinnen-Spiel ist eingebettet in den Unterricht des Fachbereichs «Ethik, Religionen, Gemeinschaft», in dem Markus Nogara mit seiner Klasse das Lehrmittel «Schauplatz Ethik» erprobt. Dieses arbeitet mit vertrauten Alltagssituationen, den sogenannten Schauplätzen, um zum Nachdenken über Werte und Normen anzuregen.

Markus Nogara und seine Klasse sind bereits in der vorangegangenen Unterrichtseinheit in den «Schauplatz Gefängnis» eingetaucht und setzten sich mit dem Zweck von Gefängnissen und möglichen Alternativen auseinander. Die heutige Lektion schliesst nahtlos ans Thema an. «Es geht darum zu verstehen, weshalb es für das Funktionieren einer Gesellschaft Regeln braucht und woher diese kommen», erklärt Nogara.

Einleitend gibt der Sekundarlehrer einen geschichtlichen Überblick, der verdeutlicht, wie sich Regeln und Normen seit der Steinzeit entwickelt haben. «Mir ist es wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler kritisch mit Themen auseinandersetzen.» Dazu biete das geplante Lehrmittel gute Anstösse für den Unterricht. «Es enthält insbesondere auch Themen, die ich nicht auf dem Radar hatte, aber sehr interessant finde.»

Wertvolle Inputs für den Unterricht

Die Inputs aus dem Lehrmittel erachtet Markus Nogara als wertvoll, auch wenn er die Inhalte nicht immer 1:1 übernehme. Er habe zum Beispiel das Königinnen-Spiel selbst entwickelt. Das Lehrmittel lässt dafür Raum: Es können eigene Ideen umgesetzt oder es kann vorgefertigtes Material benutzt werden.

Dass das Königinnen-Spiel nicht nur Spass gemacht hat, sondern auch die gewünschten Lernziele – nämlich die Auseinandersetzung mit Werten und Normen – erreichen liess, zeigen die Reaktionen: «Ohne Regeln geht nichts. Aber ohne Geld auch nicht: Deshalb haben wir uns in unserer Gruppe überlegt, wie wir unseren Staat finanzieren können. Auch dies ist wichtig», zieht Patrick Bilanz. Und Vada meint: «Alle haben unterschiedliche Ideen und Meinungen. Ich wäre nicht gerne Königin.»

Auf der Suche nach dem passenden Gefühl

Szenenwechsel: Bei den Drittklässlern im Schulhaus Widmer in Langnau am Albis dreht sich bei unserem Besuch alles um Gefühle. An der Wandtafel stehen die Frage «Was ist Glück?» und dazu die ganz persönlichen Antworten der Schülerinnen und Schüler wie «Spass haben», «Neu in die Schweiz kommen und herausfinden, wie es hier ist», «Mit lieben Personen zusammen sein», «Grossvater hat ein Trampolin geschenkt», «Dass ich zum FC Langnau gehöre», «Stolz, dass ich jetzt besser lese und Freude daran bekomme».

Der heutige Unterricht hat zum Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, Gefühle zu ergründen und sie zu benennen, wenn sie sie spüren. Und zwar weit über das Glück hinaus: «Die Welt ist eine Achterbahn der Gefühle, auf der auch Wut, Freude oder Trauer mitfahren», sagt die Lehrerin Kamla Zogg.

Aus dem realen Leben gegriffen

Die Grundlage für ihre Unterrichtseinheit bildet der Schauplatz «Chilbi». Auch sie erprobt das Lehrmittel «Schauplatz Ethik». «Mir gefällt am Lehrmittel besonders, dass es Inputs bietet, die real aus dem Leben gegriffen sind», sagt sie. Dies erleichtere die Auseinandersetzung mit einem Thema und ermögliche eine lebhafte Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern.

Ein Beispiel dafür ist die Übung «Wer fühlt sich wie?». Anhand von Minibildern mit Vorher-Nachher-Situationen üben die Kinder in Zweiergruppen, Gefühle zu beschreiben. Was geht zum Beispiel in jenem  Mädchen vor, das in der ersten Abbildung einen Ballon in der Hand hält und glücklich lächelt und in der zweiten Illustration dem wegfliegenden Ballon nachschaut. «Sie ist wütend», erklärt ein Mädchen. Und die Lehrerin hakt nach: «Und wenn ihr dies noch präziser beschreibt? Dann ist man in diesem Moment noch nicht traurig oder wütend, vielleicht eher überrascht und erschrocken. Das Wütend- oder Traurigsein kommt dann vielleicht etwas später.» 


«Genervt passt nicht zu Trauer»

Auch bei der nächsten Übung geht es um Genauigkeit beim Beschreiben von Gefühlen – und die Erfahrung, dass Grundgefühle in ganz unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Die Schülerinnen und Schüler erhalten je ein Kärtchen mit Begriffen wie ängstlich, erfreut, betrübt, überglücklich oder begeistert und ordnen diese an der Wandtafel den Grundgefühlen Wut, Angst, Freude und Trauer zu. Und stimmt's? «Begeistert gehört nicht zu Angst», meldet sich eine Schülerin. Und die Lehrerin bestätigt: «Ja, das ist doch eher ein freudiges Gefühl.» «Genervt passt nicht zu Trauer», korrigiert ein anderer Schüler. Und die Klasse befindet gemeinsam, dass man es zur Wut setzen sollte. 

Ein Lehrmittel auf Augenhöhe mit den Kindern

Kamla Zogg hat bei der Vorbereitung und der Durchführung des Unterrichts die zur Verfügung stehenden Materialien verwendet, aber auch eigene Inputs eingebracht. So spielten die Schülerinnen und Schüler zum Abschluss Gefühle vor, die die Klasse erraten musste.

«Ich finde das Lehrmittel sehr, sehr gut: Die kurze Einführung in die Thematik ist in weniger als fünf Minuten gelesen und das Lehrmittel lässt grossen Spielraum im Umgang mit dem vielfältigen, gut zusammengemixten Material», erklärt sie. Und überhaupt nicht selbstverständlich bei einem Thema wie Ethik sei es, dass das Lehrmittel ohne moralischen Zeigefinger auskomme, nicht instruierend, sondern anregend wirke und die Kinder auf Augenhöhe anspreche. Ihre Erfahrungen aus der Erprobung seien durchweg positiv. 

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