«Eine mündige Teilhabe an der digitalen vernetzten Welt»

Medien und Informatik: Interview mit der Informatikdidaktik-Professorin Ira Diethelm

Wie werden Kinder und Jugendliche für die digitale Welt befähigt? Expertin Ira Diethelm äussert sich zum Dagstuhl-Dreieck, das drei Perspektiven verbindet: die technologische, die gesellschaftlich-kulturelle und die Anwendungs-Perspektive.

Frau Diethelm, wie begleiten Lehrpersonen und Eltern das Thema digitale Bildung?

Ira Diethelm: Das Bild ist sehr gemischt. Viele sind unsicher und wissen nicht, was digitale Bildung genau sein soll, was nötig ist. Viele denken, dass es nur darum geht, die alten Bildungsziele mit neuen Geräten besser oder schneller zu erreichen. Aber dass die Digitalisierung auch neue Bildungsziele mit sich bringt und selbst thematisiert – nicht nur benutzt – werden muss, erkennen viele erst langsam. 

Zur Interviewpartnerin

Ira Diethelm, Universitätsprofessorin für Didaktik der Informatik, Universität Oldenburg. Foto: Universität Oldenburg

Das Modell des Dagstuhl-Dreiecks definiert drei Felder der digitalen Bildung (siehe Grafik). Was steckt hinter diesem Modell?

Das Dagstuhl-Dreieck entstand beim Versuch, die Frage zu beantworten, was Kinder und Jugendliche wissen und können müssen, um die digitale vernetzte Welt zu verstehen und mitgestalten zu können, um also in und mit Phänomenen, Artefakten und Situationen dieser digitalen Welt verantwortungsvoll und produktiv handeln zu können. Für eine mündige Teilhabe an der digitalen vernetzten Welt braucht es alle drei Seiten des Dreiecks.

 

Das Dagstuhl-Dreieck

Grafik in Anlehnung an das Dagstuhl-Dreieck der Gesellschaft für Informatik e.V.

Sie haben das Dagstuhl-Dreieck mitentwickelt. Wie kam es dazu?

Auf dem deutschen Schloss Dagstuhl sind im Frühjahr 2016 Experten aus der Informatik(-didaktik), der Medienpädagogik und den Erziehungswissenschaften gemeinsam den erwähnten Fragen nachgegangen. Uns war wichtig, eine Antwort zu finden, die für alle und vor allem auch in der bildungspolitischen Kommunikation funktioniert. Dazu haben wir uns in drei Gruppen aufgeteilt. In jeder Gruppe wurden Modelle erarbeitet. Eine Gruppe kam mit drei Kreisen wieder (wie sie bereits im Lehrplan 21 enthalten sind), eine Gruppe hatte ein Koordinatensystem und eine Gruppe ein Dreieck. Wir stellten in der Zusammenführung schnell fest, dass alle ähnliche Aspekte abbildeten und entschieden uns dann für die Dreiecksdarstellung. Wir haben versucht, die Ausgangsfrage zu beantworten, ohne die Begriffe Medien und Informatik zu verwenden, sondern inhaltlich zu beschreiben.

Das Resultat dieser Zusammenkunft ist die «Dagstuhl-Erklärung – Bildung in der digitalen vernetzten Welt». War der Schweizer Lehrplan 21 eine Inspirationsquelle für Dagstuhl oder hat sich beides parallel aus dem pädagogischen Zeitgeist entwickelt? 

Der Lehrplan21 beziehungsweise das Kreise-Modell von Beat Döbeli Honegger war uns bekannt – Beat war auch dabei auf Schloss Dagstuhl und hat darüber berichtet – und ist sicher eine Inspiration gewesen. Die Idee selbst lässt sich aber noch weiter zurückverfolgen: Wie wir später feststellten, hatte sich auch schon 1983 eine internationale Arbeitsgruppe mit der Frage befasst, was Kinder in der Grundschule über die digitale Welt wissen und können müssen und drei ähnliche Perspektiven formuliert. 

Eine historische Perspektive gibt es im Dagstuhl-Dreieck nicht. Spielt Technikgeschichte für die digitale Mündigkeit eine Rolle?

Unbedingt. Die historischen Fragen sind einerseits in der gesellschaftlich-kulturellen Perspektive enthalten (Wie und warum wirkt das?). Dort kann Fragen nachgegangen werden, wie sich die Gesellschaft zum Beispiel durch zunehmende Globalisierung und Urbanisierung verändert hat, sodass es vermehrt Bedürfnisse gibt, die von sozialen Netzwerken befriedigt werden. Umgekehrt beeinflussten soziale Netzwerke auch schon die Geschichte, zum Beispiel beim Arabischen Frühling. Andererseits ist hier auch die technologische Perspektive berührt. Wenn man danach fragt, wie und warum etwas funktioniert, kann und sollte man auch beleuchten, wie es dazu gekommen ist, dass diese und jene Technik überhaupt existiert. So ist die Ausfallsicherheit, die die Struktur des Internets und seiner Protokolle ausmacht, ganz klar dem kalten Krieg geschuldet. Und die Entschlüsselung deutscher Funksprüche durch Alan Turing und seine Kolleginnen und Kollegen mit den Vorläufern heutiger Computer in Bletchley Park hat ganz entscheidend den Ausgang des zweiten Weltkriegs beeinflusst. Also ja, Informatik und Technikgeschichte gehören definitiv zusammen.

 

«Die Schweiz ist weiter»

Das sagt Ira Diethelm…

… zu den Folgen von Corona für die digitale Bildung:

«Viele Lehrkräfte haben festgestellt, dass sie die digitalen Endgeräte nicht nur nicht bedienen können, sondern dass sie auch ihren Schüler*innen nicht erklären können, wo zum Beispiel die Daten jetzt genau sind und wer wieso darauf Zugriff hat oder nicht. Dies kann bei einigen dazu führen, dass sie sich fortbilden und einen Schwung aus der Corona-Zeit mitnehmen. Bei anderen geht das Pendel aber sicher in die Gegenrichtung. Spannend bleibt, wie das Verhältnis dieser Gruppen ist. Ist man über den Berg? Gibt es also mehr digital affine als digital ablehnende Lehrpersonen? Falls ja, könnte sich ein positiver Effekt insofern ausbreiten, als dass das Digitale dann zum Standard gehört und man auch im Kollegium nicht mehr darum herumkommt, weil zum Beispiel die Kommunikation viel mehr digital funktioniert und «Nicht-Digitale» dann nicht mehr so viel mitbekommen. Sicher sagen kann man das noch nicht. Ich habe aber die Hoffnung, dass sich vor allem dadurch etwas tut, dass hoffentlich bald alle Lehrkräfte überhaupt erst einmal Dienstgeräte bekommen und der Dienstherr sie dann auch zur Nutzung zwingen kann.»

… zum «Medien und Informatik»-Unterricht international: 

«Als Deutsche kann ich im Schnitt sagen: Fast alle europäischen Länder stehen besser da als Deutschland betreffend Infrastruktur – insbesondere Breitband –, Ausstattung und Aufgeschlossenheit der Lehrkräfte gegenüber Digitalen Medien im Unterricht in den Schulen. Auch führen immer mehr Länder das Pflichtfach Informatik ein oder haben es schon seit Jahrzehnten, vielerorts schon ab der Grundschule. So hat Deutschland zwar immerhin seit 2016 einen verpflichtenden Kompetenzkatalog zur digitalen Bildung. Es ist aber noch in vielen Bundesländern unklar, wie dieser umgesetzt wird. Die Schweiz und Österreich sind da weiter.»

… zu den Programmierfähigkeiten von Lehrpersonen, die Medien und Informatik unterrichten: 

«Um Informatik zu unterrichten, muss man programmieren können. Aber man muss nicht der beste Programmierer der Welt oder der Schule sein. Man muss wissen, wie es geht, sollte sich schon einmal stundenlang und gern wochenlang an einem Projekt abgemüht haben. Hinzu kommt aber auch, dass man das Grundverständnis für die Prinzipien der digitalen Welt besitzt, Freude dabei empfindet und auch Selbstvertrauen und Zuversicht besitzt, technische Probleme mithilfe des eigenen Könnens bis zu einem gewissen Grad alleine lösen zu können. Fähigkeiten wie Programmieren und Technische-Probleme-Lösen sind aber nicht nur für Informatiklehrkräfte wichtig. Sie stehen auch im DigComp 2.1., dem europäischen Kompetenzrahmen, den alle EU-Bürger zur gleichberechtigten Teilhabe an der digitalen Welt besitzen sollten, also auch alle Lehrkräfte aller Fächer und alle Menschen allgemein. Diese Fähigkeiten stellen eine wichtige Grundlage dar, die auch im Dagstuhl-Dreieck wieder auftritt: In der technologischen Perspektive geht es darum, Fragen beantworten zu können danach, wie und warum etwas funktioniert.»

… zur ersten Programmiersprache für Kinder in der Schule: 

«Wichtig ist, mit einer blockbasierten Sprache anzufangen, damit man sich nicht so sehr im Klein-Klein von Tippfehlern verliert und schnell zu einem Erfolgserleben kommt. Die Kinder sollten feststellen können, wie einfach, aber auch wie schwierig es ist, einer Maschine zu sagen, was sie tun soll und auch, wie vielfältig sie damit Ideen umsetzen können. Anschliessend kann man auch auf eine textuelle Sprache umsteigen. Diese sollte sich dann aber in der Logik in die blockbasierte einfinden, also zum Beispiel auch objektorientiert sein und nicht so viele Fehlerquellen mit sich bringen – zum Beispiel auf Klammern verzichten.»

… zum Lehrmittel «connected», das auf dem Dagstuhl-Dreieck basiert: 

«Mir gefällt an connected, dass das Lehrmittel die einzelnen Kompetenzstufen des Lehrplans 21 den Kapiteln nachvollziehbar zuordnet. Und dass es mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Kapiteln die verschiedenen Seiten des Dagstuhl-Dreiecks abzudecken versucht. Es ist meines Wissens bisher das einzige deutschsprachige Lehrmittel dieser Art.»

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