«Keine Revolution, aber eine forcierte Evolution»

Interview Dirk Vaihinger

Dr. Dirk Vaihinger kam 2018 als Redaktionsleiter zum LMVZ. 2021 hat er die Ad-interim-Leitung übernommen, seit Mai 2022 ist er offiziell Verlagsleiter. Davor leitete er 19 Jahre lang den bekannten Zürcher Verlag Nagel & Kimche.

Wodurch zeichnen sich Lehrmittel künftig aus, und wie werden sie entwickelt? Der neue Verlagsleiter des LMVZ, Dirk Vaihinger, skizziert im Interview seine Erfahrungen und Erwartungen an die Zukunft.


Dirk, du bist im Mai 2022 Verlagsleiter geworden. War das ein guter Zeitpunkt? Die meisten grossen Lehrmittel für den Lehrplan 21 sind abgeschlossen oder auf dem Weg dahin.
Dirk Vaihinger: Das war sogar ein hervorragender Zeitpunkt. Mit Deutsch und Englisch haben wir zwei umfangreiche Lehrmittel in Entwicklung, die uns noch jahrelang beschäftigen werden. Darüberhinaus hat der LMVZ viele weitere Aufgaben vor sich.

Nämlich?
Wir sind nicht nur Entwickler, sondern auch Händler, Betreuer, Dienstleister. Wir erbringen mittlerweile viele Leistungen rund um den Lehrmitteleinsatz, die wir vor einigen Jahren noch wenig bewirtschaftet haben: beraten, helfen, Support für die digitalen Lehrmittel leisten, ausliefern. Dieser Service wächst, ausserdem brauchen wir für bestehende Lehrmittel neue Zusätze und Formate. Es ist also eine permanente Modernisierung in jeder Hinsicht.

Meinst du mit der Modernisierung die Digitalisierung? 
Auch, aber nicht nur. Eine solche Modernisierung hat auch andere Treiber: die Entwicklung der Didaktik, die Bedürfnisse der Differenzierung und der Integration, die gewandelten Berufsbedingungen der Lehrkräfte, die Lehrmittel- und Bildungspolitik, Marktveränderungen – eben der gesellschaftliche Wandel. An Lehrmittel werden von vielen Akteuren mehr und höhere Ansprüche gestellt als früher. Und die Geschwindigkeit dieses Prozesses bleibt hoch. Vielleicht kann man sagen: Der oft beschworene disruptive Bruch der Digitalisierung ist ausgeblieben, aber es ist eine permanente Umwälzung in hohem Tempo. Keine Revolution, aber eine forcierte Evolution.

Was heisst das konkret?
Es wird nicht, wie manche hoffen oder befürchten, demnächst Virtual-Reality-Brillen in allen Klassenzimmern geben oder ein Lernchip ins Gehirn implantiert. Aber es ergeben sich sukzessiv neue Dinge, die einzeln klein wirken, doch  in der Summe die Lernsettings stark beeinflussen.

Was sind das für neue Dinge?
Im Bereich der didaktischen Funktionen zur Lernunterstützung prüfen wir viele Ideen, interaktive Tools, Pop-up-Informationen, Sprachunterstützung, Audio-Text-Verbindungen … Tutorials und Erklärvideos sind ohnehin schon länger im Einsatz. Auch eine digitale Assistenz, die Lernprozesse unterstützt, ist keine futuristische Träumerei mehr.

All dies macht die Lehrperson bekanntlich nicht überflüssig.
Es hiess doch schon vor vielen Jahren, die Lehrperson werde immer mehr zum Coach. Ich hielt das erst für ein leeres Schlagwort, aber heute verstehe ich, was damit gemeint sein könnte: Wenn digitale Hilfsmittel besser werden, lassen sich Standardprozesse automatisieren und Unterrichtsplanung sowie Organisation optimieren. Die Lehrpersonen erkennen aufgrund digitaler Übersicht und Analyse, wo individuell und gezielt Hilfe nötig ist. Diese Möglichkeit gibt es erst durch die technische Entwicklung. Darin liegt ja auch ein gewisses Paradox.

Was meinst du damit?
Wir wollen Lehrmittel und Tools entwickeln, die das Unterrichten einer heterogenen Schülerschaft unterstützen, also die praktische Lehrarbeit tendenziell vereinfachen sollen. Paradox ist, dass durch das Ziel der Komplexitätsreduktion im Unterricht die Lehrmittel selbst immer facettenreicher und komplexer werden müssen.

Was bedeutet das für die Lehrmittelentwicklung?
Es ergibt sich an allen Ecken und Enden Weiterentwicklungsbedarf. Auslöser sind immer die Bedürfnisse der Lehrpersonen, und diese erreichen uns über sehr unterschiedliche Kanäle. Um den Bedürfnissen entsprechen zu können, entwickeln wir Lösungen, wie jüngst das vereinfachte LMVZ-digital-Login für die Kleinen. Technische Lösungen bedingen häufig einen aufwendigen Prozess.

Und was hat das für Folgen?
Wir überlegen, wie wir künftig einzelne Lehrmittel nicht von Grund auf neu-, sondern nach Einführung sukzessive weiterentwickeln: nachbearbeiten, verbessern, ergänzen. Wie im Frühjahr mit den Erklärvideos für unser Lehrmittel «Mathematik 4 bis 6 Primarstufe». Lehrmittel könnten so mit vergleichsweise überschaubaren Investitionen in  kürzeren Perioden modernisiert und umgebaut werden. Es ist am Ende nicht mehr dasselbe Lehrmittel, sondern ein durch einen Umwälzungsprozess ausgetauschtes. Vielleicht wird es ja irgendwann das ewig erneuerte Lehrmittel geben?

 

«Die Modernisierung bei
den Lehrmitteln zeigt sich
als permanente Umwälzung
in hohem Tempo.»

Dirk Vaihinger

 

Support