«Vorlesen weckt die Lust am Lesen.»

Ein Viertel der Jugendlichen erreicht im Lesen die von der OECD definierte Mindestkompetenz nicht mehr, zeigt die neuste PISA-Studie. Woran liegt das, wozu führt das und wie können Bezugs- und Lehrpersonen unterstützen? Ein Gespräch mit Nora Kernen, Dozentin der Professur für Deutschdidaktik und ihre Disziplinen an der PH FHNW.

Frau Kernen, die Lesekompetenz von Jugendlichen in der Schweiz hat sich gemäss der letzten PISA-Studie verschlechtert. Waren es 2015 20 Prozent, die leistungsschwach waren, sind es heute 25 Prozent. Was bedeutet es genau, wenn eine Schülerin oder ein Schüler schwach im Lesen ist?
Das bedeutet, dass sie einen Textinhalt kaum oder gar nicht verstehen. Schülerinnen und Schüler, die im Lesen schwach sind, haben meistens keinen persönlichen Gewinn vom Lesen. Wenn sie zum Beispiel Texte wie einen Jugendroman oder Informationstexte lesen, dann sind sie so mit dem Verstehen von einzelnen Teilen beschäftigt, dass es ihnen schwerfällt, ein Gesamtverständnis des Textes aufzubauen. Dieses brauchen sie aber, um in eine Textwelt – zum Beispiel in die eines Romans – einzutauchen und mit den Figuren mitleben zu können.

Wieso haben Schülerinnen und Schüler heute mehr Mühe, Textinhalte zu verstehen?
Die Problematik der Leseschwachen am Ende der Schulzeit besteht nicht erst seit heute – das zeigten bereits die vorangegangenen grossen Leistungsstudien, beginnend ums Jahr 2000. Allerdings hat sich die Gruppe der schwachen Leserinnen und Leser im Vergleich zu den letzten Ergebnissen der PISAStudie vergrössert. Die Ursachen sind in verschiedenen Bereichen zu suchen. Bekannt ist, dass der sozioökonomische Status von Familien – damit sind unter anderem Bildung, Beruf und Einkommen gemeint – einen grossen Einfluss auf die Lesekompetenz hat.

Ist die Familie also «der» ausschlaggebende Faktor, wie gut ein Kind später lesen kann?
Der sozioökonomische Status spielt sicher eine grosse Rolle, ist aber nicht allein verantwortlich. Es wird davon ausgegangen, dass verschiedene Faktoren und deren Zusammenspiel für die Entwicklung der Lesekompetenz verantwortlich sind. Dazu gehören neben den familiären auch die individuellen Voraussetzungen der Kinder, beispielsweise das Geschlecht. So tun sich Jungen beim Lesen zuweilen schwerer als Mädchen.

Welche Folgen kann eine schwache Lesekompetenz im weiteren Leben haben?
Mit Blick auf das lebenslange Lernen haben schwache Leserinnen und Leser hier schlechtere Voraussetzungen. Auch stelle man sich zum Beispiel Abstimmungstexte und deren Erläuterungen vor. Diese sind für schwache Lesende nicht verstehbar und das bringt in einer direkten Demokratie Schwierigkeiten mit sich, wenn es um die Mitbestimmung geht.

Wie hängen Lesemotivation und Lesekompetenz zusammen?
Wenn nur Lesefreude und Lesemenge gefördert werden, steigert das nicht automatisch die Leseleistung. Die Lesefreude hat weniger Einfluss, als sich die Forschenden noch vor fünfzehn Jahren erhofft hatten. Es kann zu einem Strohfeuer-Effekt kommen. Das heisst, Kinder können durch positive Anreize (z. B. die Freude am Digitalen) kurzzeitig mehr Freude am Lesen haben. Wenn bei ihnen aber nicht zugleich die kognitiven Fähigkeiten gefördert werden und sie beim Lesen an ihre Grenzen stossen, nimmt die Motivation schnell wieder ab. Für schwach lesende Kinder ist das sehr frustrierend.

Wie können Eltern und Bezugspersonen die Lesekompetenz fördern?
Mit der Leseförderung kann in jedem Alter begonnen werden – aber es gilt: je früher, desto besser. Aus der Forschung wissen wir, dass das Elternhaus einen sehr wichtigen Einfluss auf die Lesekompetenz von Kindern hat. Kinder, die von zuhause den Umgang mit Büchern kennen, tun sich leichter, den Einstieg in die Welt der Bücher zu finden. Wir wissen, dass einerseits das Vorlesen und andererseits gemeinsame Gespräche über Bücher sehr hilfreich sind. Eltern oder Bezugspersonen können am besten kleine Lesepausen in den Alltag integrieren und sollten keinen Druck ausüben. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass sie mit dem Kind gemütlich nebeneinander im eigenen Buch lesen und sich zwischendurch gegenseitig lustige oder spannende Stellen vorlesen oder erzählen.

Was raten Sie Lehrpersonen, um ihre Schülerinnen und Schüler beim Lesen zu fördern?
Viele Schulen und Lehrpersonen sind in Sachen Lesekompetenzförderung bereits sehr aktiv. Ich empfehle meinen Studierenden, selbst Lesevorbild zu sein, sich mit Jugendliteratur auseinanderzusetzen, die sie selbst mögen. Denn passende Lesestoffe sind sehr wichtig, um Lesenden Erfolgserlebnisse zu verschaffen: Ein ganzes Buch «geschafft zu haben», kann ein grosser Ansporn sein, vor allem wenn Lesende zuvor bereits öfter gescheitert sind. Daneben sind beispielsweise Lautleseverfahren wirksam: Schülerinnen und Schüler lesen dabei zu zweit und arbeiten an ihrer Leseflüssigkeit. Auch Hörbücher können für die Leseförderung eingesetzt werden. Nicht zuletzt spielt in der Sekundarstufe vermehrt die Vermittlung von Lesestrategien eine Rolle.

Und was raten Sie Lehrpersonen in der Primarschule, um Kindern von Anfang an Freude am Lesen zu vermitteln?
Auch hier gibt es schon viele gute Ansätze, die bereits umgesetzt werden. Neben dem Einstieg in die Welt der Schrift sind gerade für Kinder, die noch wenig Erfahrungen mit Büchern machen konnten, Vorlesen und Gespräche zu Lektüren in den Klassen wichtig. Auch regelmässige Bibliotheksbesuche geben Raum für Erlebnisse rund um das Thema «Lesen», welche die Lesemotivation stärken.

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