«Wir brauchen mehr 21st-Century-Skills.»

In der Schweiz werden Kindergartenkinder ab vier Jahren im Bereich MINT gefördert. Warum ist es wichtig, Kinder so früh für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern? Welchen Einfluss haben der sozioökonomische Hintergrund und das Geschlecht auf die MINT-Bildung? Wo hat unsere Gesellschaft noch Nachholbedarf? Antworten der Physikerin und Fachdidaktikerin Susanne Metzger.

Frau Metzger, haben Sie sich schon als Schülerin für Mathe und Physik interessiert?

Schon als Kindergartenkind habe ich mit meinem Vater, der Physiker war, gerne mathematische Rätsel gelöst und viel mit seinem Metallbaukasten gespielt. Den Physikunterricht ab der siebten Klasse fand ich allerdings furchtbar langweilig und habe daher nicht mitgeschrieben. Als wir dann die erste Physikprüfung hatten, konnte ich mich ohne Mitschrieb nicht vorbereiten und war umso überraschter, dass ich eine sehr gute Note bekam. Ab diesem Zeitpunkt fand ich: Physik ist toll – da muss ich gar nichts lernen und kann trotzdem supergut sein (lacht).  

Sie haben in den 90er-Jahren Physik studiert und später darin promoviert. Was hat sich heute im Vergleich zu damals verändert? 

Als ich Physik studiert habe, waren wir nur sechs Prozent Frauen. Jetzt sind es etwa fünfundzwanzig Prozent Frauen, die an Schweizer Hochschulen Physik studieren. In den Life Sciences studieren inzwischen sogar mehr Frauen als Männer. In Bezug auf den Frauenanteil hat sich also durchaus etwas getan, allerdings nur langsam. In der Informatik sowie im Maschinen- und Elektroingenieurwesen ist ihr Anteil immer noch sehr tief. Das wirkt auf junge Frauen häufig abschreckend, sie fragen sich: «Wie gehe ich damit um, wenn ich als eine von wenigen weiblichen Studentinnen viele angehende Maschinenbauingenieure um mich habe?»  

Inwieweit ist unsere Gesellschaft immer noch gefordert, was die MINT-Förderung von Mädchen betrifft? 

Ich glaube, es muss uns allen noch viel bewusster werden, dass MINT-Berufe und -Studiengänge auch für Frauen eine gute Wahl sind. Leider gilt es in unserer Gesellschaft aber noch immer nicht als cool, wenn man sich für etwas Naturwissenschaftlich-Technisches entscheidet. Wenn ein Mädchen sagt, sie möchte Mechatronikerin werden, heisst es oft: «Oh nein, mach doch lieber KV, dann hast du was davon.» Diese Ansicht ist bei Eltern, Lehrpersonen, bei uns allen noch tief verankert. 

Ab welchem Alter werden an den Schulen MINT-Kompetenzen gefördert?  

Der Lehrplan 21 gibt in der Deutschschweiz vor, dass Kindergartenkinder bereits ab vier Jahren mit altersangemessenen Phänomenen im Bereich MINT konfrontiert werden – oder vielmehr, dass sie sich damit beschäftigen dürfen, wie ich es formulieren würde. Die Kinder schon früh zu interessieren und zu motivieren, halte ich für ganz wichtig. Es hilft zum einen, die Neugierde wachzuhalten, und zum andern, den Gender-Gap gar nicht erst gross werden zu lassen. Mädchen sollen erkennen, dass diese Themen spannend sind und dass sie das genauso gut können wie Jungen.  

Spielt denn das Geschlecht eine Rolle, ob sich ein Schulkind für MINT-Fächer interessiert? 

Die PISA-Studie von 2022 hat für das Fach Mathematik aufgezeigt, dass der Leistungsunterschied zwischen Mädchen und Jungen nur minimal ist. Allerdings haben Mädchen signifikant mehr Angst vor Mathematik als Jungen: Bei gleicher Leistung hat ein Mädchen eine zweimal höhere Wahrscheinlichkeit, Angst vor Mathematik zu haben, als ein Junge. Bei sozial schwächeren Familien gibt es zudem einen signifikanten Unterschied, was das Erreichen der Grundkompetenzen und höheren Kompetenzen angeht. Der sozioökonomische Hintergrund spielt also bei den Mathematikleistungen eine grosse Rolle, das Geschlecht dagegen weniger. 

Wenn jemand aus einer bildungsfernen Familie kommt, hat das also einen signifikanten Einfluss auf die MINT-Bildung? 

Ja, wenn Eltern der MINT-Bildung keinen hohen Wert beimessen und vielleicht schon früh selbst die Erfahrung gemacht haben: «Ich war nie gut in Mathe» oder «Physik war nicht wichtig», dann ist diese Einstellung häufig auch bei den Kindern spürbar. Dagegen sind Eltern mit einem hohen sozioökonomischen Status – also sowohl bildungsnahe als auch finanziell gut gestellte Familien – in der Lage, ihre Kinder anders zu fördern: Mit entsprechenden Spielsachen und Büchern, aber auch mit Ausflügen in ein Museum oder ein Science Center. Durch diese ausserschulische Förderung bringen die Kinder ein viel grösseres Erfahrungswissen mit. 

Welche Bedeutung hat Sprachkompetenz in diesem Zusammenhang? Stellt mangelndes Textverständnis nicht eine grosse Herausforderung im Unterricht dar?

Das eigentlich Spannende im MINT-Bereich oder gerade in den Naturwissenschaften und der Technik ist doch: Kinder können da ganz viel erleben, weil sie einfach beobachten und Fragen stellen können. Sie haben ein Kompetenz-Erleben, und es kann etwas funktionieren, ohne dass sie es in Worte fassen müssen. Es ist umso besser, wenn sie auch lernen, es zu beschreiben und in einfachen Worten besprechen. Aber sie können teilhaben und mitmachen, ohne dass sie es auf Deutsch beschreiben müssen. Und fürs Beschreiben kann man ihnen unterschiedliche Hilfestellungen geben, wie Textbausteine, Satzanfänge und Satzverbindungen.

In der Wissenschaft ist die Fachsprache wichtig. Wie geht man im MINT-Unterricht damit um, nicht zu wissenschaftlich, aber dennoch genau zu beschreiben?

Die Alltagssprache entwickelt sich zunehmend zur Fachsprache, über die gesamte obligatorische Schulzeit hinweg. Anfangs regt man Kinder durch sanfte Hinweise dazu an, genauer zu beschreiben, was sie sehen. Später achtet man auf genauere Unterscheidungen zwischen Alltags- und Fachsprache, zum Beispiel: «Der Magnet haftet» anstatt «der Magnet klebt». Oder: «Kraft auf etwas ausüben» und nicht einfach «Kraft haben». Im Lehrmittel «NaTech 7–9» verwenden wir Fachbegriffe immer einheitlich, manchmal verbunden mit dem Hinweis «Im Alltag sagt man dazu…, aber in der Fachsprache heisst es…». Ich halte es für sehr wichtig, auch sprachlich eine Brücke zwischen beiden Welten – unserer Alltagswelt und der Welt der Wissenschaft – zu schlagen.  

Was ist Ihre Prognose für die MINT-Förderung – gerade auch in Bezug auf den Fachkräftemangel? 

Ich glaube, es gibt immer wieder kleine Fortschritte, die zusammengenommen viel bewirken können. Allerdings kann ich nicht sagen, ob wir den Fachkräftemangel wirklich in den Griff bekommen – schon allein aus dem Grund, weil immer wieder neue, unabsehbare Herausforderungen hinzukommen. Unsere Aufgabe heute ist es daher zu überlegen, was wir in zwanzig oder dreissig Jahren brauchen. Wie muss Schule im Jahr 2050 aussehen? Was müssen Schülerinnen und Schüler lernen, um in fünfundzwanzig Jahren fit für die Gesellschaft, für die Arbeitswelt zu sein? Eins ist klar: Träges Wissen auswendig zu lernen hilft uns nicht weiter. Stattdessen brauchen wir mehr 21st-Century-Skills, um den Herausforderungen unserer komplexen Welt zu begegnen – also neben Kommunikation und Kooperation auch typische MINT-Fähigkeiten wie kritisches Denken, Analysieren und innovatives Problemlösen.  

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