«Trotz Digitalisierung bleiben die Lehrpersonen zentral.»

Welche Veränderungen bringt die Digitalisierung für die Bildung mit sich? Wo liegen die Chancen, wo die Herausforderungen?  Bildungsexperte Beat Döbeli zeigt im Interview auf, wie technologische Entwicklungen den Unterricht für die Schülerinnen und Schüler verändern und welche Rolle den Lehrpersonen dabei zukommt.

© Foto Martin Dominik Zemp

Herr Döbeli, Sie beschäftigen sich seit über 25 Jahren mit dem Thema Digitalisierung und Bildung. Wie würden Sie die Entwicklungen der vergangenen Jahre in der Schweiz  zusammenfassen? Wo stehen wir heute?
Einerseits hat sich sehr viel getan, andererseits erstaunlich wenig. Vor zwanzig Jahren waren es noch einzelne Pionierinnen und Pioniere unter den Lehrpersonen, die regelmässig Computer und das aufkommende Internet eingesetzt haben. Heute ist das im Unterricht Alltag, die Digitalisierung ist, provokativ ausgedrückt, ein Schulfach geworden. Es behauptet auch niemand mehr ernsthaft, die Digitalisierung im Bildungswesen sei ein Hype, der wieder vorbeigeht. Auf der anderen Seite ist es aus meiner Sicht erschreckend, wie wenig tatsächlich passiert ist: Wir diskutieren noch immer über Ausstattungsfragen und technischen Support. Und die Weiterbildung von Lehrpersonen in Bezug auf ihre IT-Kompetenzen ist weiterhin ein grosses Thema.

Was kann die Digitalisierung in der Bildung leisten? Wo liegt das grösste Potenzial?
Die Digitalisierung bietet zahlreiche didaktische Potenziale, die aber je nach Schulstufe und Thema unterschiedlich passend und umsetzbar sind. Erstens ist sowohl das Konsumieren als auch das Produzieren von multimedialem Material für Schülerinnen und Schüler viel einfacher geworden. Früher hätte man beispielsweise für ein Hörspielprojekt einen riesigen Aufwand betreiben müssen. Mit den Smartphones steht heute das Aufnahmestudio jederzeit zur Verfügung. Solche technischen Möglichkeiten erhöhen unter anderem die didaktische Vielfalt und ermöglichen eine vertiefte Auseinanersetzung, auch mit selbstgewählten Themen. Das zweite wichtige Potenzial liegt im individualisierten Lernen: Der Computer kann gewisse Aufgaben individualisieren, er kann sofortige und sanktionsfreie Rückmeldungen geben und so das Üben unterstützen. Und die grosse Hoffnung ist ja, dass der Computer mit der Zeit lernt, was die Schülerinnen und Schüler nicht können, und dementsprechend die passenden Aufgaben liefert. 

Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen?
Die Welt um die Schule verändert sich. Sie wird insgesamt immer komplexer. Die Informationsflut wird noch einmal unheimlich steigen, und die Anforderungen der Gesellschaft verändern sich. Gewisse Tätigkeiten können heute schneller und kostengünstiger von Computern oder Robotern erledigt werden. Das verändert bestimmte Berufe oder bringt sie gar zum Verschwinden. Früher war beispielsweise Lagerist ein Beruf, da musste man kräftig sein und mit dem Gabelstapler umgehen können. Mit dem Wandel zu Hochregalen, die mit SAP gesteuert werden, braucht es dafür heute mindestens ein Grundverständnis für Computer und ein gewisses Abstraktionsvermögen. Solche Veränderungen stellen Anforderungen an das gesamte Bildungswesen. Die Frage ist, wie können wir Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten? Wie muss ihre Ausbildung zukünftig aussehen?

Sie haben die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz (KI) auf die Berufsbildung erwähnt. Wie wirkt sich diese auf den allgemeinbildenden Unterricht aus?
Es ist wie bei der Einführung des Taschenrechners: Warum soll ich Kopfrechnen lernen, wenn es den Rechner gibt? Seit den KI-basierten Übersetzungsprogrammen lautet die Frage: Warum muss ich Französisch lernen, wenn das Programm für mich übersetzt? Und wenn Sprachgeneratoren bald ganze Texte schreiben können: Warum muss ich lernen, gute Texte zu schreiben? Obwohl die Mögichkeiten von Sprachgeneratoren selbstverständlich begrenzt sind, sind sie in gewissen Bereichen schon erstaunlich leistungsfähig. Im Schulkontext kann es für Lehrpersonen folglich schwierig werden zu merken, ob Schülerinnen und Schüler etwas selbst geschrieben haben oder nicht. 

Was halten Sie von neuen Tools, wie zum Beispiel Virtual und Augmented Reality im Unterricht?
Das ist momentan ein grosser Hype. Der Einsatz ist allerdings noch mit viel Aufwand verbunden und abhängig von Stufe und Fach. Im Berufsschulumfeld beispielsweise ist dies sehr interessant, weil man damit berufsspezifische Arbeitsumgebungen simulieren und gefahrenfrei ausprobieren kann. Aber auch im allgemeinbildenden Unterricht sehe ich da Möglichkeiten: Wenn etwa im Natur-und-Technik-Unterricht Elektrizität sichtbar gemacht werden kann oder ähnliches. Das belebt den Unterricht, macht ihn vielseitiger und verändert ihn. Grundsätzlich gilt aber immer: Nur weil die Geräte teuer waren, heisst das nicht, mehr Einsatz ist besserer Einsatz. Und ich glaube, es kann nie das Ziel sein, alles digital machen zu wollen. Der richtige Mix macht es aus.

Was zeichnet Ihrer Ansicht nach sinnvolles digitales Lehren und Lernen aus?
Im Idealfall führt die Digitalisierung dazu, dass Schülerinnen und Schüler sich vielfältiger und vertiefter mit für sie relevanten und interessanten Themen auseinandersetzen können. Irgendwann wird das Digitale so alltäglich werden, dass eine Lehrperson nicht mehr bei jeder Unterrichtseinheit überlegen muss, mach ich das digital oder analog. Differenzierter betrachtet, spielen sicherlich Stufe und Fach eine massgebende Rolle. In einem Sprachfach habe ich andere Potenziale und Möglichkeiten als beispielsweise in der Mathematik. Und auf den höheren Stufen wiederum andere als bei den jüngeren Schülerinnen und Schülern. Wobei ich damit nicht sagen will, dass digitale Medien nur auf den höheren Stufen Sinn machen. Es gibt auch sehr gute digitale Lehrmittel für kleine Kinder.

Können Sie etwas zur Entwicklung von (digitalen) Lehrmitteln und deren Zukunft sagen?
Früher waren die digitalen Lehrmittelteile 1:1 Kopien des Gedruckten – zum Beispiel in Form von PDF. Oder es gab Begleit-CDs und Webseiten mit zusätzlichen interaktiven Übungen als Zusatz zum gedruckten Lehrmittel. Heute gibt es vermutlich fast keine Lehrmittel mehr, die nicht mindestens eine digitale Entsprechung oder Ergänzung haben. Und mit der Entwicklung von rein digital konzipierten Lehrmitteln stehen wir erst am Anfang, da wird noch viel passieren. Ich finde es heute schwieriger einzuschätzen, was die Zukunft von digitalen Lehrmitteln ist, als vor zehn Jahren. Damals konnte ich sagen, es muss von allem mehr geben. Heutzutage werden Lehrmittel einerseits immer umfassender und umsorgen Schülerinnen und Schüler aber auch Lehrpersonen immer stärker: mit Inhalten, Übungen, weiterführendem Material, Selbsteinstufungen etc. Damit verlagert sich ein immer grösserer Teil der Unterrichtszeit ins Lehrmittel. Andererseits vereinfacht es die Materialfülle im Internet in gewissen Fächern auch, ganz ohne Lehrmittel zu arbeiten.

Wie verändert sich die Rolle der Lehrpersonen in diesem Kontext?
Eines ist sicher: Die Lehrpersonen bleiben trotz oder gerade wegen der Digitalisierung zentral. Sie motivieren, orchestrieren und begleiten Lernprozesse. Natürlich hat sich ihre Rolle verändert – aber das schon länger. Vor 70 Jahren war die Lehrperson die Person im Dorf mit dem meisten Wissen. Und die Schulbibliothek war quasi der Hort des Wissens. Mit der Digitalisierung haben Schulen und Lehrpersonen das Informationsmonopol verloren: Das Internet bietet Unmengen mehr an Informationen und Werkzeugen. Allerdings hat das eben auch seine Kehrseiten. Ich ziehe in diesem Kontext gerne den von Martin Weller geprägten Begriff der «Pädagogik des Überflusses» bei. Er steht sowohl für  die Chancen als auch für die Herausforderungen unserer Zeit: Einerseits ermöglicht das Überangebot unglaublich Vieles, andererseits belastet es auch. Aufgabe der Lehrpersonen, aber auch der Schulen, der Verlage, des Bildungssystems insgesamt ist es, im Zeitalter des Überflusses Hilfestellung zu bieten und eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Keine einfache Aufgabe – und gerade darum besonders wichtig. 

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